Melancholic World Theater 2001-2006

26.02.06 06:27 PM By ALUNA
E. Bulut "spielplatz no 2" acrylic on canvas, 175 x 250cm
Text: "Melancholic World Theater" von Prof. Dr. Stephan Berg

In dieser Malerei gibt es keine Unverbindlichkeit, keine formalen l’art pour l’art-Spielereien. Alles, was sich auf der Leinwand zeigt, ist bewegt von einer Unbedingtheit, einer inhaltlichen Notwendigkeit, die eng mit der Biografie des Malers verknüpft ist. 


Erdogan Bulut, gebürtiger Zaza, der 1980, mit zwanzig Jahren, getrieben von der tiefen Sehnsucht zu malen, die Türkei verlässt und bis 1990 sein Studium an der Städelschule bei Per Kirkeby und Thomas Bayrle absolviert, verarbeitet in all seinen Bildern die tiefgreifende Erfahrung von Unbehaustheit und Heimatlosigkeit. Dabei vermeidet er von allem Anfang an jegliche illustrierende Eindeutigkeit.


In den 90er Jahren begegnen wir einer schweren, materialhaften Malerei, in deren dunklen, wie geschichtet und gebaut wirkenden Farbfeldern rätselhafte, vage organoid, tierisch oder menschlich wirkende Formen wie Inkarnate eingebettet sind. Thomas Bayrle schreibt 1990 über die Malerei seines ehemaligen Schülers: „Erdogan Bulut treibt die Bestandteile seiner Malerei vor sich her – Massen werden dauernd verlagert – wie Beton in einer Mischmaschine.“(1) Das ist eine schöne Beschreibung für die mahlstromartig kreisende zähflüssige Bewegung, mit der diese Malerei ihre dunklen, melancholischen Farbformen wägt und wendet, knetet, an die Bildoberfläche hervorstößt und wieder in das Dunkel des Bildgrundes zurücksinken lässt. In der Tektonik der Bilder spürt man durchaus die Nähe zu Per Kirkeby und seinen geologische Strukturen nachvollziehenden malerischen Schichtungen. Inhaltlich aber geht es um etwas anderes, nämlich um die Übersetzung einer „latenten psychischen Realität“(2) in eine das Traumlogische und Irreale streifende eigene malerische Bildsprache.

Strukturell ist dieses Verfahren dem Surrealismus und seiner Suche nach symbolhafter Verschlüsselung und der Verschmelzung von innerer und äußerer Realität verwandt. 


Aber darüber hinaus ist diese Malerei – zumindest bis Ende der 90er Jahre – von einer Solidität, einer fast erdhaften Schwere und Abstraktheit, die im Widerspruch zu den exaltierten Realitätsübersteigungen des klassischen Surrealismus steht. 


Die Bulutsche Psychisierung des Malgeschehens folgt einer Logik von agonaler Spannung und fragilem, stets gefährdetem Ausgleich. Wie Bruchstücke aus einem größeren, nun aber nicht mehr rekonstruierbaren Zusammenhang treiben wesenhafte Formen durch die Farbmasse, geraten aneinander und laden sich mit zerstörerischer und selbstzerstörerischer Energie auf, ohne dass das Bild daran zerbricht. So erkennbar die Trauer um eine auseinanderfallende Welt, die Erfahrung des Nicht-Mehr-Ganz-Werdens dieses Werk bewegt, so sehr achtet der Maler gleichzeitig auf eine schlussendliche kompositorische Balance. In einem 1991 verfassten Text führt er dazu aus: „Das Bild beruhigen, bis alle Elemente ihren Platz haben und keines mehr eine Frage stellt.“(3)


Im Jahr 2000 realisiert Erdogan Bulut zwei aus hunderten von kleinen Einzeltafeln bestehende Bildinstallationen, in denen die für das Gesamtwerk so charakteristische Ambivalenzbewegung zwischen fragmentierter Vereinzelung und Zusammenfügung in eine neue Form gebracht wird. „Gemurmel“ besteht aus 612 nur fünfeinhalb mal vier Zentimeter großen acrylbemalten rechteckigen Gipstäfelchen, die als Block präsentiert werden. „Gebrumme“ vereinigt 232 kreisrunde, im Durchmesser sechs Zentimeter messende Gipsscheiben zu einem großen Tondo. Die stark farbigen, leuchtenden und fast fröhlich wirkenden flachen Bildkörper zeigen Rätselhaftes und Vertrautes in trautem Nebeneinander: Köpfe, Landschaftausschnitte und andere dechiffrierbare Motive stehen neben abstrakten biomorphen Formen. Im Blick über das wimmelnde Ganze verschwimmt das Einzelne im Ganzen und behauptet sich doch auch als eigenständige, für sich stehende Miniatur. Die Fokussierung auf das Detail und der panoramatische Blick auf das Ganze: in Buluts enzyklopädisch anmutendem, leise summendem Bildgemurmel gelingt beides als dialektische Bewegung, in der die Kontingenz und der Zerfall der Wirklichkeit mit dem Anspruch auf eine Ganzheit verknüpft wird, welche um ihre Fragwürdigkeit weiß. 


Vor allem das rechteckige Tableau „Gemurmel“ wirkt in seiner akkuraten, fast minimalistischen Anordnung auf den ersten Blick 


wie ein visuelles Alphabet, ein Farbform-Archiv, aus dem sich alle Bildideen der Welt generieren lassen. 


Wenn man sich dagegen näher mit den einzelnen Bildstrukturen beschäftigt, entdeckt man, dass ihr Vokabular keineswegs systematischen Kriterien, sondern rein subjektiven Setzungen entspringt.


Eben dieses pausenlose Ringen um eine Bildform, die das Einzelne als Vereinzeltes und gleichzeitig als Teil eines größeren, aber nie vollständigen, nie zur ursprünglichen Ganzheit zurückfindenden Zusammenhangs zeigt, steht auch im Mittelpunkt des großen Werkkomplexes, mit dem der Künstler etwa seit 2001 beschäftigt ist. Diese permanent weiterwachsende, bis heute mehr als dreißig annähernd gleichformatige, große Leinwände umfassende Reihe wirkt in ihrem Nebeneinander aus isolierten malerischen Einzelelementen und gesamtkompositorischem Anspruch wie eine Synthese aus den Arbeiten der frühen 90er Jahre und den vielteiligen Tableaus „Gemurmel“ und „Gebrumme“. 


Das Geschehen, der „Spielplatz“, so der Gesamttitel der Reihe, auf seinen immer querformatigen Leinwänden entfaltet, erscheint ebenso komplex wie rätselhaft. Nahezu unhierarchisiert versammelt sich auf den vorwiegend weißen Bilduntergründen ein breites Ensemble an „Darstellern“: Fratzenhafte, leicht zerdrückte oder verzerrte Gestalten, die von ferne Dubuffet und die Art brut zitieren, erscheinen neben Kapuzenmännern, Totenköpfen und Kreuzen. Das Motiv der Kinderrutsche spielt direkt auf den titelgebenden Spielplatz an. Mauerstücke, Zäune, Tore setzen architektonische Akzente, ohne dass dadurch die Szene lokalisierbar würde. Neben diesen gegenständlichen Elementen behaupten organoid-abstrakte Formlinge ihre hermetische Symbolik. Es liegt etwas Bühnenhaftes über diesen Situationen, das latent schon länger in Erdogan Buluts Arbeiten angelegt ist. „Arena I und II“ hießen beispielweise zwei hochformatige Arbeiten aus den Jahren 1998/99, deren Titel schon den Zusammenhang zwischen Bild und theatralischer Szene betont. „Spielplatz“ verstärkt diesen Aspekt deutlich. 


Was uns diese panoramatischen Querformate zeigen, ist nicht weniger als ein 

„theatrum mundi“, 

ein Stück über die innere Verfassung der Welt.


Hatte der Maler anfänglich noch versucht, die einzelnen Elemente seines „Welttheaters“ durch monochrome Farbfelder zu verbinden und zu homogenisieren, geht er im Lauf der Arbeit an seiner umfassenden Serie mehr und mehr dazu über, die einzelnen Motive vereinzelt in oder besser vor dem weißen oder bisweilen auch anthrazitgrauen Hintergrund schweben zu lassen. Aus der schweren, verbackenen Tektonik der 90er Jahre ist ein freies Flottieren modularer Komponenten geworden. 


Immer weniger scheinen die Bilder einen äußeren, formalen Halt zu benötigen. Manchmal fließen die Formen noch wie zufällig ineinander oder werden durch mäandernde, fiebrige Lineaturen zueinander in Beziehung gebracht. Auf „Spielplatz No 10“ (2005) aber entfallen auch diese Strategien der Stabilisierung. Vor dem nackten Weiß der Leinwand bewegen sich die fast ausschließlich schwarzweißen Malzeichen in völliger Ungebundenheit. Nur eine Hügelkette im Hintergrund und ein Hauch von perspektivischer Anlage des Bildes sorgen für eine poröse Hierarchie, eine fragile Ordnung des Bildplans. Eigentlich aber befinden wir uns auf der Ebene der Elementarteilchen. In symbolischer Chiffrierung sehen wir die Partikel einer bereits explodierten, heillos in Unordnung geratenen Welt durch das Bild-All fliegen, in dem erkennbare Skepsis darüber herrscht, dass alles irgendwann wieder sinnvoll zueinander findet. 


Buluts „Reise mit leerem Sack auf dem Rücken die Straße entlang“ vorbei an „tausenden von Lebewesen, die beweglich sind“(4), ist ein melancholisches, aber kein hoffnungsloses Erinnerungsprojekt. Es ist ein fetzen- und stückchenhaftes malerisches Sammeln von Antagonismen, die unsere Welt bewegen. Gut und Böse, Liebe und Hass, symbolische Mauern und reale Begrenzungen spielen darin die Hauptrolle. Mögliches Pathos reduziert der Maler dabei schon durch die Malanlage. Wie aus einer weit entfernten Vogelperspektive blicken wir auf das Gewimmel, das sich chaotisch und unsystematisierbar vor unseren Augen vollzieht. Damit wiederholen wir gewissermaßen die Haltung des Malers, der wie ein demiurgischer Puppenspieler seine „Darsteller“ auf den Plan treten lässt und mit dieser Inszenierungsgeste auch auf die grundsätzliche Konstruiertheit seines Malvorhabens aufmerksam macht.


Zudem hüten sich die Bilder vor jeglicher plakativer Eindeutigkeit. Die existentielle Unbehaustheit, die in ihnen anklingt, und die schwermütige Recherche nach den verschütteten Verbindungslinien zwischen individueller und kollektiver Erinnerung haben nichts gefühlsduselig Lamoryantes. 


Eher ist es so, dass der Maler uns das ganze Panorama der Möglichkeiten zeigt, 

ohne das Bild in einen bestimmte Behauptungsrichtung treiben zu wollen


Die barocke Formel, wonach die gesamte Welt eigentlich als gewaltiges Lebens-Theaterstück zu betrachten sei, hilft dabei, über das Existenzielle zu reden, ohne in ihm zu versinken. Zwischen grotesker Übersteigerung und comichafter Verknappung, zwischen Drama und Idyll, zwischen melancholischer Vereinzelung und brüchigem Zusammenhalt gelingt Erdogan Bulut in seiner Malerei ein Bild der Welt als einem Theater der unauflösbaren und gerade deswegen lebendigen Widersprüche.



Text: Prof. Dr. Stephan Berg, 2006 Hannover
Editor: Gallery k9 aktuelle Kunst
ISBN-10: 3-00-018985-8

ISBN-13: 978-3-00-018985-2

Anmerkungen: (1) Thomas Bayrle, in: Erdogan Bulut: Bilder und Pastelle, Katalog Galerie Bernd Slutzky, Frankfurt/M. 1990, S. 5; (2) Hans Zitko: Trauer und Ironie, in: Erdogan Bulut: Neue Bilder und Skulpturen, Katalog Galerie Bernd Slutzky, Frankfurt/M. 1994, S. 4; (3) Erdogan Bulut: 18 Uhr abends, in: Erdogan Bulut: Bilder und Skulpturen, Katalog Galerie Bernd Slutzky, Frankfurt/M. 1991, S. 19; (4) Erdogan Bulut: Erinnerungsbilder, in. Erdogan Bulut: Getting Image, Katalog Galerie Bernd Slutzky, Frankfurt/M. 2000, S. 12

ALUNA